Freitag, 20. Juni 2014

Geschenke oder - das Universum liefert?

Seit es das Versandhaus Quelle nicht mehr gibt, bestellen immer mehr Menschen Dinge ihres täglichen oder speziellen Bedarfs beim Universum.

Parkplätze, neue Möbel, neue Jobs oder gar neue Partner soll es liefern. Wenn die Lieferung ausbleibt oder etwas Falsches geschickt wird, liegt das - im Unterschied zu Quelle - nicht an Lieferfehlern, sondern an der unkorrekten oder unvollständigen Bestellung. Weil die Kunden da offenbar vieles falsch machen können, gibt es kostenpflichtige Anleitungen. Wenn's dann immer noch nicht klappt, darf man sich nicht etwa beschweren, sondern soll wahrscheinlich in sich gehen und einsehen, dass es besser so ist. Das ist meine Interpretation, denn gelesen habe ich keines der "Universum"-Bestellbücher. Das Universum hat jedenfalls immer Recht und kann gar nichts falsch machen. Das machte diese Idee zu einem risikolosen Geschäft für die Autorin der Bücher, denn verantwortlich für Fehler ist immer der Anwender. (Ähnlich wie bei Microsoft.)

Mit dem Bedeutungsverlust der klassischen Religionen scheint magisches Denken immer mehr um sich zu greifen, und es macht auch mir manchmal Spaß, überraschende Begebenheiten oder Glücksfälle als kleine Wunder zu deuten. Ich freue mich über ein gutes Horoskop, weil es mich beschwingt in den Tag starten lässt. Das hat etwas Spielerisches.  

Aber es gibt eine Grenze.

Vor langer Zeit habe ich alles von Louise Hay gelesen, was mir in die Finger kam. Aus ihren Büchern strömt eine Menge Wärme, ja sogar Liebe. Man fühlt sich verstanden und vermutet eine verwandte Seele, die aber im Gegensatz zum Leser eine Lösung gefunden hat. Louise Hays Leben war lange Zeit unfassbar schwer, und sie hat sich schließlich selbst gerettet - dadurch wirkt sie glaubwürdig und authentisch. Ihr "Zaubermittel" waren und sind Affirmationen und Visualisierungen, wogegen eigentlich nichts einzuwenden ist.

Wenn sie erfolgreich sind, kommt für Lehrer wie Hay irgendwann der Zeitpunkt, wo aus dem ursprünglich individuellen Erleben und Weitergeben ihrer Erkenntnisse ein wirtschaftliches Unternehmen entstehen könnte und es meist auch tut. Auch dagegen ist nichts zu sagen - schließlich können auch weise und / oder spirituelle Menschen zumindest in der westlichen Welt nicht von Luft und Liebe oder freiwilligen Gaben ihrer Schüler leben. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, und das sind beileibe keine Scharlatane - ich denke an Eckhardt Tolle, Geneen Roth (die ich persönlich wunderbar finde und für völlig integer halte), Brené Brown und andere.

Meine Bewunderung für Louise Hay erhielt einen heftigen Dämpfer, als ich bei YouTube ein Gespräch zwischen ihr und einer anderen Self Help-Vermarkterin ansah. Über die typisch amerikanischen enthusiastischen bis hysterischen Aspekte solcher Auftritte sehe ich meist tolerant hinweg - aber als Ms. Hay von ihrem Rolls Royce schwärmte und die andere Dame ausrief: "And to think that you manifested all of that yourself! Just showing that there is no limit to what you can achieve" und Ms. Hay ihr begeistert zustimmte, entfuhr mir eine drastische Bemerkung, die ich hier nicht wiederholen möchte.

Das magische Denken, nach dem ich alles, was in meinem Leben passiert, selbst verursacht habe - zum Beispiel durch "falsches Denken" oder meinetwegen auch "falsche Bestellungen", ist letztendlich zutiefst inhuman. Wenn Du allen Ernstes glaubst, dass Du allein durch richtige oder falsche Gedanken etwas herbeiführen oder verhindern kannst, wie deutest Du dann etwa eine Naturkatastrophe oder einen Flugzeugabsturz? Haben in diesen Fällen einige Hundert oder einige Tausend Menschen alle an etwas Falsches geglaubt oder falsch gelebt, so dass ihnen diese Unglücksfälle zustoßen mussten? Mitgefühl und Solidarität wären unangebracht, denn alle Opfer hätten ihr Schicksal selbst herbeigeführt und daher wäre alles so, wie es wohl sein sollte. Während einer Diskussion über dieses Thema habe ich mal eine Bekannte gefragt, ob sie denn wirklich meine, dass meine Schwester selbst Schuld sei an ihrer Krebserkrankung und ihrem frühen Tod, und diese Bekannte bejahte das. Nicht ohne eine Weile herumzudrucksen, aber letzten Endes war das ihre Überzeugung. 

Vor einiger Zeit war dieser Glaube an Zusammenhänge zwischen Krebserkrankungen und psychischer Verfassung weit verbreitet, und so abwegig erschien die Vorstellung gar nicht. Nach dem Motto: wenn Du immer alles in Dich hineinfrisst, kriegst Du irgendwann Magenkrebs! Längst haben seriöse Studien das klar widerlegt. Die Erfahrung lehrt: Argumente ändern leider selten etwas an irrationalen Überzeugungen. Liebstes "Argument": Das glaube ich einfach nicht! 

Wenn also jemand kurz vor der Fahrt in die Stadt beim Universum einen Parkplatz bestellt und prompt einen findet, liegt das wohl eher an erhöhter Aufmerksamkeit für freie Parkplätze, weil der Fahrer sich vorher positiv darauf eingestimmt hatte.

Ich bin nämlich überzeugt, dass wir dem Universum herzlich egal sind. Ich glaube auch nicht an einen Ausgleich in dem Sinne, dass Gemeinheit bestraft und das Gute belohnt wird. Ein Blick in die Tageszeitung widerlegt das sofort. Woran ich inzwischen allerdings glaube, ist das Gesetz der Resonanz - wenn man dem Ding denn einen Namen geben will. 

Trotz gelegentlicher Rückstürze in den Depri-Sumpf oder zeitweilig schwierige Lebensumstände bin ich im Grunde meines Herzens Optimistin (zu meiner eigenen Überraschung). Vor allem bemühe ich mich, nicht Andere - und sei es nur durch schlechte Laune - für meine Probleme zu bestrafen. (Für die Zusendung von Heiligenscheinen: Adresse auf Anfrage)

Mit Resonanz meine ich: wenn ich durch die Welt laufe mit der Einstellung, dass diese mir etwas schuldet, weil ich bisher verdammt viel zu kurz gekommen bin, wird mir wohl eher nichts Gutes begegnen. Empirische Forschungen mit mir selbst als Versuchsperson während einiger übler Jahre belegen das. Nicht repräsentativ, gebe ich zu.

Nachdem ich das - durchaus auf die harte Tour - gelernt habe und mich  seitdem um mehr Offenheit bemühe für alles, was mir so begegnet, sind mir tatsächlich eine Menge kleine und große Wunder geschehen.

Und sehr oft in Notlagen: Als mir meine alte Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt wurde und ich große Angst hatte, aus meinem geliebten Viertel wegziehen zu müssen, kaufte mein damaliger Chef kurzerhand eine Wohnung und vermietete sie an mich. Und wo fand ich diese Wohnung? Ein Stockwerk höher schräg über meiner alten. Eine gute Fee hatte ich mir immer ganz anders vorgestellt, und nun kam sie mir als großer kräftiger Bauingenieur verkleidet zu Hilfe. Nach menschlichem Ermessen muss ich nie mehr Angst haben, mein Zuhause zu verlieren. Der Ingenieur ist schon lange nicht mehr mein Chef, sondern ein verlässlicher Freund und wunderbarer Vermieter.

Und nun, wo ich meinen Job verloren und eine OP vor mir habe und von Krankengeld unter dem Hartz IV-Satz lebe, kriege ich wieder lauter Geschenke: Letztens überlegte ich, dass sich ein Stehtisch gut in meiner Wohnküche machen würde, und dazu gehören natürlich zwei passende Stühle. Dann brach ich zu einem Spaziergang auf, bog um die Straßenecke, und da stand der erste Stuhl, wartete resigniert auf den Sperrmüll und fand stattdessen ein neues Zuhause.

Für meine Minidiele will ich mir einen schmalen Tisch bauen, der genau in eine Nische passen muss. Gestern - komischerweise gehe ich scheinbar immer vor Sperrmüllterminen spazieren - warteten vier nagelneue Tischbeine inklusive Befestigungsmaterial vor einem Nachbarhaus. Dazu gab es einen original verpackten schicken Couchtisch und noch ein paar andere Kleinigkeiten. Außerdem eine dänische Flagge und dänische Bücher. Danke also von Herzen an die geschmackssichere dänische Familie, die vermutlich in die Heimat zurückgeht!

Und danke nicht zuletzt an freundliche junge Männer, an die ich über Facebook ein Regal oder andere aussortierte Dinge verschenke, und die sich mit Heimwerkerarbeit revanchieren, und an liebe Menschen, die mich mit einem Buchgeschenk überraschen (you know who you are).

Nochmal zu meiner Resonanztheorie: in Prä-Facebook-Zeiten gab es diverse Verschenk-Webseiten, und die habe ich damals auch genutzt. Häufig sind mir dort Leute begegnet, die mit der oben beschriebenen Anspruchshaltung durch's Leben liefen. Jemand meldete sich also auf ein Angebot, sagen wir mal: einen gut erhaltenen Wintermantel, versäumte dann den vereinbarten Abholtermin und fragte stattdessen an, ob ich das Teil per Post schicken könne. Natürlich auf meine Kosten. Wenn ich das ablehnte, wurde ich auf der Seite als gemein und geizig beschimpft. In dieser Hinsicht funktioniert die soziale Kontrolle auf Facebook bestens. Mir ist allerdings hier nie so jemand begegnet, so dass das Verschenken einfach Freude macht. Außerdem ist es - zumindest symbolisch - ein Zeichen gegen die Wegwerfgesellschaft.

Wobei mir einfällt: ich muss noch die nette junge Frau anrufen, die mir ein kleines Regal geschenkt hat und geduldig ein paar Tage aufhebt, bis ich es abhole.

Bis bald in diesem Theater.




















Freitag, 13. Juni 2014

Misfit

Seit ein paar Tagen ist ihre alte Bekannte, die Verzweiflung, zurück. Erst hat sie nur leise auf sich aufmerksam gemacht. Aber plötzlich kommt sie in mächtigen Wellen, die sie überschwemmen, durchschütteln und auf den  Grund stoßen, bis ihre Haut aufschrammt und die Tränen fließen. Sie wünscht sich wohl Gesellschaft, aber doch nicht solche.

Im Geist hört sie die Floskeln von früheren "Freundinnen": Ist doch gut, wenn Du weinen kannst! Danach geht's Dir besser. Es geht aber nicht besser. Wie kann man soviel Flüssigkeit produzieren? Manchmal geht das stundenlang, und niemand auf der Welt weiß etwas davon. Das ist vielleicht das Schlimmste. Sie muss an die Parabel von dem Baum denken, der unbemerkt im Wald umstürzt. Gibt es den Baum dann überhaupt? Gibt es SIE? Sie lebt ein unbezeugtes Leben.

Gestern hat sie gegoogelt, ob es im Internet Rat gibt für Menschen, die ohne Beziehungen oder Freunde leben müssen. Sie hat sich dafür geschämt, aber doch auf Antwort gehofft. So wie früher, als jedes dritte Buch in ihrem Regal ein Selbsthilfe-Ratgeber war, in dem es um Depression, Einsamkeit oder Esssucht ging. Oder alles auf einmal. Bücher waren immer ihre Gefährten, und schon als Kind hatte sie sich mit ihnen in andere Leben und Welten geträumt. Später hat sie dann geglaubt, wenn sie nur das richtige Buch fände, in dem der eine, der richtige Satz stand, wäre sie gerettet.

Wenn sie Alkoholikerin wäre, hätte sie gerade einen Rückfall. Sich besaufen an schlimmen Gedanken. Sich ihnen wehrlos ausgeliefert fühlen - oder sich ihnen hingeben? - und sie für die absolute Wahrheit halten. Das hat etwas von einem finsteren Rausch.

Zum Rausch gehört auch die Überzeugung, dass niemand sonst ein so schlimmes Schicksal erleiden muss. Was hat sie Böses getan? Wofür wird sie bestraft? Das hat sie sich schon als kleines Mädchen gefragt.


Sie passt in keine Schublade. Für Künstler gilt das als Kompliment und durchaus erstrebenswert. Im Leben von durchschnittlichen Menschen ist es nicht so toll, in keine Schublade zu passen. Oder als Töpfchen kein Deckelchen zu finden. Oder von keinem Töpfchen gefunden zu werden und als Deckelchen sinnlos in der Welt herum zu scheppern.

Letztens wurde zur Teilnahme an einem Gewinnspiel animiert: "Als Hauptgewinner dürfen Sie zwanzig ihrer besten Freunde zu einer privaten Filmvorführung einladen." Zwanzig! Sie hat nicht mal EINE richtige Freundin. Und als Frau ohne beste Freundin kommt man in der Werbung, im Film und überhaupt in der Wahrnehmung unserer Gesellschaft gar nicht vor. Was für eine Schreckschraube oder Langweilerin muss eine sein, die keine Freundin hat? Wenn eine schon keinen Mann abkriegt, sind da zum Trost immer noch die Freundinnen. Eine wie sie, die weder das eine noch das andere vorweisen kann und noch nicht mal eine Karriere als akzeptable Entschuldigung - verdient die überhaupt einen Platz auf der Welt?

Sie sucht nach einem Ausweg, aber das schreckliche Gedankenkarussell dreht und dreht sich, bis ihr Geist in alle Richtungen davonfliegt. Die alten Überzeugungen stehen immer parat für solche Momente - sie warten ja nur auf ihren Einsatz: Wenn schon Deine Eltern Dich nicht lieben konnten, wie sollen das dann wildfremde Menschen tun? Es bedeutet, dass nichts Liebenswertes an Dir ist. Das ist doch nur logisch.

Deine Mutter hat Recht behalten mit ihren Prophezeiungen: Du endest einsam und allein, weil Du einfach nicht normal bist. Du störst überall. Sei endlich still und lass' uns in Ruhe. Sieh' Dich nur mal an - wenn Du wenigstens hübsch wärst!

Eine Bekannte sagte letztens: Es ist immer so lustig mit Dir. Sie hört: Du musst immer lustig sein.

Dabei ist ihr Lustigsein ja keine Lüge - nur vom Traurigsein darf und will niemand wissen. Sie surft ein bisschen weiter im Internet. Und findet eine Geschichte. Sie fängt - skeptisch - an zu lesen. Verschwommenen Blicks, weil die Tränen immer noch fließen. Sie schmecken nicht mehr ganz so bitter.

Das Märchen von der traurigen Traurigkeit

Sie fühlt sich seltsam getröstet. Kleine Blitze von Selbsterkenntnis und Humor leuchten durch die Tränen. Die Worte schaffen ein bisschen Ruhe, und langsam kommt sie wieder bei sich an.









Donnerstag, 5. Juni 2014

Sing When You're Happy!

Ich habe mal gelernt, dass man sich möglichst jeden Tag einmal so richtig blamieren soll. So wird trotz aller Bemühungen um Erleuchtung das Abheben vermieden. Oder anders gesagt: Hochmut kommt vor dem Fall.

Jedenfalls habe ich diesen Rat heute beispielhaft befolgt. Und das kam so:

Eigentlich wollte ich Euch / Ihnen, hochverehrte Leserschaft, eine besondere Freude machen und mal etwas aus meinem Gesangsrepertoire zum Besten geben. Ich komme aus einer recht musikalischen Familie, wurde zum Schulchor zwangsverpflichtet und habe immer schon gern gesungen. Außer zunächst im Schulchor, weil ich eine Todesangst vor unserem Musiklehrer und vor der Bühne hatte - und zwar in dieser Reihenfolge. Der Musiklehrer hatte etwas von einem Feldmarschall an sich. Und dass sich hinter meinem Lampenfieber eine heimliche Rampensau verbarg, habe ich erst viel später kapiert.  

Zurück zu meinem von Anfang an zum Scheitern verurteilten Vorhaben. Was ich natürlich nicht ahnte. Ich fing genauso an wie mit diesem Blog: naiv drauf los!

Ich habe also eine kostenlose Recording-App downgeloaded und ein Weilchen meine Lieblingslieder geübt. Wobei die Leser, die ein bisschen Ahnung haben, sich bestimmt jetzt schon ins Fäustchen lachen. Denn natürlich kann man als Sängerin gar nicht alleine üben. Wie hat meine Gesangslehrerin damals gesagt: Wie willst Du das denn machen ohne Klavier? Willst Du zum Himmel rufen: Oh Herr, schick' mir ein dreifach gestrichenes F?  

Sie wollte mich dazu bringen, mir ein Keyboard zu kaufen und wenigstens ein bisschen Klavier zu lernen. Aber da ich bereits am Notenlesen verzweifelt bin, kann man sich vorstellen, wie die Geschichte ausging. Ein Keyboard gab's damals günstig beim Quelle-Versand (da seht Ihr, wie lange das schon zurückliegt). Als das Paket kam, habe ich das Instrument in einer Mischung aus Vorfreude und Ehrfurcht ausgepackt. Dann habe mich beim Anblick der vielen Tasten und Knöpfe so erschreckt, dass ich es sofort wieder eingepackt und zurück geschickt habe. Was das Notenlesen angeht, war ich schon in der Schule immer in höchster Not, wenn im Musikunterricht jede von uns der Reihe nach geprüft wurde. Ich war oft schier der Ohnmacht nahe und wurde manchmal nur durch das Ende der Stunde gerettet. Beim Singen konnte ich mich ganz gut durchmogeln, weil ich eine Melodie nachsingen kann, sobald ich sie einmal gehört habe. Und im Chor vom Blatt singen geht auch einigermaßen, wenn man nicht gerade Solo singen muss. Das musste ich glücklicherweise immer erst, wenn ich die Nummer schon "drauf hatte".

Meine wunderbare Gesangslehrerin - eine überzeugte Vertreterin der positiven Pädagogik - hat mich einfach trotz totaler Disziplinlosigkeit drei Jahre ertragen. In dieser Zeit war mein Leben insgesamt eher ein apathisches Dahin-Wurschteln, und das Singen gab mir Halt und Freude und Erfolgserlebnisse. Leider konnte ich mir den Unterricht irgendwann nicht mehr leisten. Aber für die drei Jahre bin ich heute noch dankbar.

Das Tolle an Gesangsunterricht ist: Wenn Du ohne jede Vorahnung anfängst, machst Du extrem schnelle Fortschritte. Denn sobald man auch nur ein bisschen die richtige Technik anwendet, singt man sehr viel anders und sehr viel besser als vorher. Und die Technik vergisst man auch nicht. Immerhin. Aber wenn man aufhört zu üben, dann macht sich das leider ebenso schnell bemerkbar. Das habe ich schon öfter feststellen müssen. Und heute ganz besonders!

Ich also die App installiert und einen kleinen Test gemacht. Schon nach 10 Sekunden kam ich mir absolut albern vor - ich hatte ja nicht mal ein Playback als Begleitung. A capella singen ist nicht Jedermanns Sache! Meine offenbar auch nicht. Nach dem nächsten Versuch mit den ersten paar Takten von Friedrich Hollaenders "Wenn ich mir was wünschen dürfte" nahm ich meinen Mut zusammen und hörte mir die Aufnahme an.  Was ich hörte?

Zuerst ein seltsames Geraschel und Gekruschpel. Und dann ein zartes dünnes Stimmchen, dass erbärmlich zittrig das Lied ins Mikro hauchte. Ich konnte gar nicht bis zum Schluss hören, so sehr musste ich lachen. Die Melodie und der Rhythmus allerdings - nahezu perfekt. Natürlich kann nur die blöde Aufnahme-App daran Schuld sein! Nicht.

Ich habe mich gründlich blamiert, wenn auch nur vor mir selbst. Als Perfektionistin, die ich bin, ist das schlimm genug. Mal sehen, was mir morgen einfällt.

Ich bastele gerade an einem Wunschzettel - deswegen ging mir auch dieses Lied im Kopf herum. Jetzt kommt auf den Zettel auch noch ein netter Pianist, dem eine Sängerin fehlt. Und der Jazz und Chansons und alles Mögliche mag, was eine Melodie hat.

Und bis dahin: Enjoy!

Marlene singt Hollaender

Sonntag, 1. Juni 2014

Vater, die Zweite

Zweiter Weihnachtstag. Ich sitze mit meinem Vater beim Nachmittagskaffee. Wir haben uns beschenkt und ehrlich gefreut. Ich schaue in sein immer noch junges, freundliches und irgendwie wehrloses Gesicht. Es hat etwas von dem pfiffigen, aber auch ängstlichen kleinen Jungen behalten, der er wohl einmal war.

Auch schon wieder lange her, dass ich diesen Eintrag begonnen habe. Mitte März haben wir Vaters 87. Geburtstag gefeiert, und es war ein fröhlicher und schöner Nachmittag zu dritt: am Kaffeetisch saßen mein Vater - den ich in Gedanken zu meiner eigenen Verblüffung inzwischen "Papa" nenne -  der Lebensgefährte meiner verstorbenen Schwester und ich. Allein diese Konstellation hätte mich noch vor kurzem mit schlimmen Vorahnungen erfüllt. Zumindest hätte ich mich schwer zusammenreißen müssen, um nicht die gute Stimmung zu verderben. Die gute Stimmung, die natürlich nur geheuchelt sein konnte und von jedem vernünftigen und klugen Menschen - also mir! - nur Verachtung verdient hatte.

Wie sich alles so zum Guten verändert hat, kommt einem kleinen Wunder gleich.

Der Weihnachtstag vom Anfang ist ein schönes Beispiel dafür: Meinen Vater und mich verbindet sehr viel, die Liebe zur Musik unter anderem. Natürlich höre ich ganz andere Musik als er, und an Weihnachten kam es zu einem denkwürdigen Ereignis. Mein Vater hatte mir erzählt, dass er eine alte LP mit den Fischer-Chören ausgegraben hatte. Falls jemand die nicht mehr kennt: Gotthilf Fischer hatte die Idee, alle möglichen Menschen zum Singen zu bringen. Auf nicht sehr hohem Niveau, aber mit viel Spaß und großem Erfolg. In meiner Kindheit waren die Chöre in immer neuer Konstellation in jeder großen Fernsehshow zu hören und zu sehen. Und gesungen wurde so ziemlich alles. Auf der erwähnten LP waren es Evergreens aus der Schlagerwelt. Evergreens - sowas sagt heute auch niemand mehr. Mein Vater jedenfalls hatte diese Platte als Gute-Laune-Medizin entdeckt und legte sie auf, wenn ihm ein bisschen "heulerig" zumute war. Bei klassischer und religiöser Musik kommen  ihm sehr schnell die Tränen, und manchmal schämt er sich dafür. Auch das haben wir gemeinsam.

An Weihnachten saßen wir zunächst im Esszimmer - diesem unglaublich spießig eingerichteten Zimmer, auf das meine Mutter so stolz gewesen war. Das Esszimmer war ein lang gehegter Wunsch und konnte erst eingerichtet werden, als meine Großeltern nicht mehr lebten und meine Schwester und ich von zu Hause weggezogen waren. Vorher wurde aus Platzmangel im Wohnzimmer gegessen, und zwar an einem dieser Couchtische, die sich hoch und 'runter kurbeln ließen. Das fand ich als Kind ganz normal und konnte mir gar nichts anderes vorstellen. Genau wie meine damals beste Freundin es sicher normal fand, eine Haushälterin und Köchin zu haben, ein riesiges eigenes Zimmer und natürlich ein Esszimmer. Für meine Mutter gehörte das Esszimmer zu ihrem Traum von einem besseren Leben.

Dieses Zimmer gibt es immer noch, inklusive Zinntellern an der Wand und mit verschlissenem Samt bezogener Eckbank. Als wir da so entspannt und gemütlich saßen, fragte mein Vater fast schüchtern, ob ich wohl noch Zeit hätte, mit ihm ein bisschen Fischer-Chöre zu hören. Na klar, sagte ich. Und dachte: Hammer! (In Gedanken drücke ich mich gern mal pubertär aus.) 

Es ist noch nicht so lange her, dass ich höchstens eine Stunde bei meinem Vater ausgehalten habe und die Vorstellung, gemeinsam "seine" Musik zu hören, als abwegiges, geradezu unverschämtes Ansinnen weit von mir gewiesen hätte. Und trotzdem hätte ich Schuldgefühle gehabt. Denn mein Vater hat meine Verachtung und meine Vorwürfe sicher immer gespürt. Seit ich die abgelegt habe, und zwar ehrlichen Herzens und mit großer Erleichterung, ist alles anders zwischen uns. Wie meine innere Veränderung eigentlich vor sich gegangen ist, kann ich nicht genau sagen. Es war kein Entschluss, sondern eher eine langsame Entwicklung, trotzdem fühlte ich mich, als habe ich plötzlich einen Schalter umgelegt, und mir sei ein Licht aufgegangen. 

Für die Einsicht, dass ich niemanden ändern kann, habe ich sehr lange gebraucht. Und gegen die Tatsache, dass das Einzige, was sich wirklich ändern lässt, meine eigene Sicht der Dinge ist, habe ich mich ebenso lange gewehrt. Rückfälle kommen immer wieder vor. Wenn mich die Erkenntnis verlässt, dass diese Lehren die Belohnung in sich selbst tragen, brauche ich eigentlich nur an mein heutiges Verhältnis zu meinem Vater denken. Sobald ich mich anders verhielt, tat er das auch - wie von selbst. Plötzlich wurde es möglich, über Gefühle zu reden. Ich bekomme Einiges von dem, was mir als Kind so gefehlt hat, und viele Macken meines Vaters, die mich oft zum Wahnsinn getrieben haben, sind offenbar einfach verschwunden. Ich nehme an, mit den Macken und dummen Sprüchen hat er sich geschützt vor meinen ausgesprochenen, öfter noch unausgesprochenen Vorwürfen. Das ist nun nicht mehr nötig. 

Und so begab es sich (Weihnachten!), dass mein Vater und ich zusammen die ganze Platte anhörten, uns dabei an den Händen hielten und jedes Lied inbrünstig mitsangen. Das war mein persönliches Weihnachtswunder. (Das zweite Wunder war, dass ich alle, aber auch ALLE Texte immer noch auswendig konnte!)

Alles hat natürlich auch seinen Preis. Ich war vor dieser Veränderung oft so verzweifelt und dabei so erbarmungslos, dass mir mehr als einmal durch den Kopf schoss: Hoffentlich stirbt er bald, dann ist dieser ganze Krampf endlich vorbei. Es tut mir heute weh, das hinzuschreiben. Nüchtern betrachtet, ist es sowieso Unsinn, und wie froh bin ich heute, dass ich das niemals in Worte gefasst habe. 

Heute spreche ich während eines Monats öfter mit meinem Vater als früher in Jahren. Ich freue mich, wenn es ihm gut geht; ich habe großen Respekt davor, wie er mit seinem Leben zurecht kommt. Ich mag seinen Humor und sein Interesse an so vielen Dingen, über die wir uns austauschen können. Und ich kann mir selbst endlich eingestehen, ihn zu mögen und zu lieben. Ich kann es ihm sagen und mich sogar darüber freuen, wenn er mich sein Töchterchen nennt. 

Was ich mit dem Preis meine? Ich werde ihn sehr vermissen, wenn er diese Welt verlässt. Das ist neu für mich. 

Aber wie ein kluger Mensch gesagt hat: 'Tis better to have loved and lost than never to have loved at all. 
(Alfred Lord Tennyson)