Sonntag, 18. Mai 2014

Practice What You Preach

Wann immer sich jemand im Freundes- und Bekanntenkreis mit Ess- und/oder Gewichtsproblemen herumschlägt, verweist die ach-so-kluge Autorin dieses Blogs auf Geneen Roth

Seit ich mit ungefähr Ende zwanzig ihre Bücher entdeckt und zum ersten Mal "When Food Is Love" gelesen habe, bin ich ihr treu als Leserin und Schülerin. Ich habe ja schon als Kind die tröstende und beruhigende Wirkung von Honigbroten und Nussteilchen entdeckt (bei mir musste es immer süß und fettig sein, und auch das hat seine Bedeutung)  und sie als Mittel eingesetzt, um die "schlimmen" Gefühle nicht zu fühlen. Beim Lesen von Geneens Büchern (ich "kenne" sie schon so lang, dass ich sie heimlich duze) fühlte ich mich zum ersten Mal verstanden in meiner Verrücktheit mit dem Essen. Damals war ich übrigens nicht besonders dick, aber ich weiß inzwischen, dass das rein gar nichts bedeutet. Man sieht jemandem sein Unglück nicht immer an. Was man mir aber wohl angesehen hat, waren mein Selbsthass und die Überzeugung, hässlich und abstoßend zu sein. Ich wurde damals oft auf der Straße angepöbelt und beschimpft  - "fette Sau" war noch die harmloseste Anmache. Ich war das geborene Opfer, weil ich meinen Angreifern insgeheim Recht gab. 

Wenn ich heute daran denke, was ich mir alles angehört habe - auch von vermeintlichen Freundinnen - werde ich traurig und wütend zugleich. Ich möchte die Karin von damals wachrütteln und sie gleichzeitig in den Arm nehmen. Eine Kollegin wollte mich einmal mit einem Freund ihres Mannes verkuppeln, der sei vielleicht der Richtige für mich, weil erblindet. Da müsse ich keine Angst haben, weil er gar nicht erst merken würde, wie hässlich ich sei. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe. Aber ich fürchte, ich war sogar dankbar, weil jemand sich um mich "sorgte". 

Weit verbreitet ist das Klischee, dass Dicke robust und stark seien. Genau das Gegenteil ist der Fall - warum müsste man sich sonst ein Schutzpolster anfressen? Natürlich gibt es die lustigen Dicken - lustig sind sie aus Notwehr geworden. Besonders die Frauen. Frauen, die dem Schönheitsideal entsprechen, müssen nicht auch noch witzig oder schlagfertig oder zwanghaft hilfsbereit sein. Sie können, aber sie müssen nicht. Wenn man aber überzeugt ist, dass man eigentlich stört, muss man sich seine Existenz irgendwie verdienen - mit Lustigkeit oder was sonst akzeptabel erscheint. Natürlich funktioniert das nicht, aber es dauert sehr lange sich das einzugestehen. Denn was ist die Alternative? Ist es möglich, dass man einfach da sein darf, ohne Erlaubnis von den glücklichen Normalen, zu denen man so gern gehören möchte? Das ist unvorstellbar.

Daher schwelt unter der Lustigkeit die Wut, und unter der Wut die Angst. Manchmal auch die Angst vor der eigenen Wut. Ich kann mich an Phasen erinnern, wo ich es nicht fertig brachte, auch nur laut zu sprechen, geschweige denn zu schreien. Es war mir physisch unmöglich. Ich war überzeugt, nie wütend oder ärgerlich zu sein. Und ich habe damals eine Menge Freundschaften im Keim erstickt, weil ich mir außer Mitleid keinen Grund für Freundlichkeit vorstellen konnte. Dicke sind Spezialisten für passive Aggressivität. Sie können schlecht nein sagen und sich nicht gut abgrenzen. Gemäß dem Ausspruch von Groucho Marx, er wolle auf keinen Fall Mitglied in einem Club sein, der Leute wie ihn als Mitglied akzeptiert.

Nun habe ich ja diesen Blog auch angefangen, um mir selbst besser auf die Spur zu kommen, um der Scham ein Ende zu machen und meine eigene Entwicklung zu kommentieren. Es fällt mir auf, dass ich immer noch bestimmte Themen witzig verpacke, um es mir und meinen ca. fünf Lesern leichter zu machen. Wer will schon dauernd über Trauer und Schmerz lesen? Und das nicht mal literarisch wertvoll. Und damit komme ich wieder auf die weise Geneen Roth zurück. Wann immer ich etwas von ihr lese oder höre, kann ich aus vollem Herzen zustimmen. Leider ist es mit Verstehen und Überzeugt-Sein verblüffenderweise doch nicht getan! (Ich kanns nicht lassen - Humor gehört nun mal zu mir.) 

Geneen ist in ihrer Arbeit immer spiritueller geworden und vertritt inzwischen die Überzeugung, dass das Essen bzw. wie wir Ess-Süchtigen damit umgehen, nicht das Problem ist, sondern lange Zeit die Lösung war. Und um dies zu verändern, sei nichts weiter nötig als unsere Gefühle zu fühlen - viele von uns würden sagen: auszuhalten. Was ja nichts anderes bedeutet, als sich dem Leben selbst anzuvertrauen.

Das ist eben doch nochmal eine ganz andere Herausforderung. Heute habe ich vorsichtig ausprobiert, wie das gehen könnte. Seit Monaten plagt mich eine vorwitzige Bandscheibe, und ich muss wahrscheinlich operiert werden. Zudem bin ich gerade mal wieder gekündigt worden. Und das erinnert mich an eine Zeit vor 15 Jahren. Damals habe ich innerhalb einer einzigen Woche meinen Job, meine Bandscheibe und meine Mutter verloren. Nun quäle ich mich mit der Vorstellung, dass jetzt jeden Moment mein Vater sterben wird, weil alles andere auch genauso ist wie damals. 

Dazu kommt, dass ich als Dauer-Single sowieso mit einem sehr bangen Gefühl ans Krankenhaus denke. Da gibt es wieder jede Menge Anlässe zum Schämen. Wenn ich keinen Besuch bekomme, wenn niemand mich abholt, wenn ich keinen nächsten Angehörigen angeben kann und so weiter und so fort. You get the drift. Hoffentlich versinke ich nicht in einem ekligen Sumpf von Selbstmitleid. Selbstmitgefühl ist allerdings in Ordnung. 

An diesem Sonntag habe ich entgegen dem ersten Impuls, mich um jeden Preis abzulenken, einen Spaziergang gemacht und meine Gefühle zumindest nicht abgewehrt. Ich habe mir erlaubt, traurig und ängstlich zu sein in der Gewissheit, dass ich davon nicht sterben werde. Und mit der Erfahrung, dass auch schlimme Gefühle nicht ewig anhalten. Das muss man aber erstmal glauben. Lange Zeit konnte ich mir das gar nicht vorstellen. Ohne Hilfe von klugen und einfühlsamen Therapeuten und nicht zu vergessen: knallharten Mitpatienten wäre ich nicht bis hierher gekommen. Wahrscheinlich wäre ich gar nicht mehr da. Andererseits gab es immer einen kleinen Funken Lebensfreude, der einfach keine Ruhe geben wollte, wenn ich mich nur noch nach Ruhe gesehnt habe (Friedhofsruhe). Dem und meiner Neugier bin ich sehr dankbar. Und stelle fest, dass die ja zu mir gehören. Soll ich mir womöglich selbst dankbar sein?

Der zweite Vorschlag von Geneen Roth ist, sich an einfache Essensregeln zu halten. 

Die Kernregeln: Iss, wenn Du Hunger hast. Iss, worauf Dein Körper gerade Lust hat. Und hör auf zu essen, wenn Du satt bist. Das sind die, die ich seit einigen Jahren befolge. Es gibt einige mehr, die ich noch nicht schaffe. Essen ohne Ablenkung zum Beispiel. 

Dennoch: ich denke daran, wie mein Leben früher aussah. Obwohl ich die Bücher von Geneen Roth, Susie Orbach und anderen schon kannte, gab es fast nur verbotenes Essen für mich. Jede neue Diät versprach Erlösung. In meiner Phantasie wurde ich nach ein paar Monaten Diät dünn und glücklich, während ich in der Wirklichkeit die Wochenenden einsam mit Büchern und pfundweise Süßigkeiten auf meiner Couch verbrachte. In einem Winkel meines Selbst ahnte ich, dass das nicht der Weg ins Glück sein konnte. Aber wie sehr viele, die sich endlich mit den Schrecken befassen, die unter der Speckschicht verborgen sind, hatte ich Angst, dass ich nicht mehr aufhören würde zu fressen, wenn alles erlaubt wäre. Wie konnte ich denn diesem verhassten Körper vertrauen?  

Inzwischen habe ich erfahren, das es tatsächlich möglich ist. Dabei schwindet auch der Hass von selbst. Ich bekomme Lust auf Obst, wenn ich ein paar Tage keins gegessen habe. Ich kann Packungen mit Keksen als Vorrat haben und muss nicht sofort alle auf einmal vertilgen. Es gibt kein verbotenes Essen mehr - außer Schokolade. Die betrachte ich wie Zigaretten. Ich habe einfach damit aufgehört. Ich habe seit Jahren nicht zugenommen, sondern allmählich Gewicht verloren. Wobei mich das gar nicht mehr besonders beschäftigt.

Das Leben ist zu schön und auch zu kurz, um dauernd übers Essen nachzudenken.













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