Dienstag, 25. Februar 2014

Rückenschule Teil 2

(Was bisher geschah:

Von der Geschäftsreise mit Horrorschmerzen nach Hause gekommen, erfährt sie, dass ihre Mutter in ihrer Abwesenheit gestorben ist. Noch ehe sie das richtig verstanden hat, liegt sie in neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses, das nur fünf Minuten von der elterlichen Wohnung entfernt ist.)

In der Klinik überlässt sie sich der freundlichen Fürsorge der Ärzte und Helfer. Sie hat absolut keine Angst vor der Operation und lässt die ganze Prozedur bis zur Anästhesie mit distanziertem Interesse über sich ergehen. Gleich nach dem Aufwachen geht sie untergehakt mit einem Pfleger den Gang entlang. Der ermuntert sie mit Charme und schönen Worten: Ja, sehr gut! Königliche Haltung, genau das will ich sehen. Sie schreiten majestätisch den Flur auf und ab und sie genießt, nach langer Zeit endlich ohne Schmerzen zu sein.

Sie ist gerührt über die vielen Besucher. Sie redet sich ein, es mache ihr nichts aus, dass Vater und Schwester nicht kommen. Vom Fenster ihres Krankenzimmers kann sie den Häuserblock sehen, in dem sie aufgewachsen ist, und wo ihr Vater nun allein wohnt. So richtig hat sie noch nicht verstanden, dass ihre Mutter nie mehr dorthin zurückkehren wird.

Deshalb fragt sie zwei Tage nach der Operation ihre Ärztin, ob sie zum Friedhof fahren darf. Trauerfeier und Begräbnis haben ohne sie stattgefunden, und sie muss dort hin, um zu sehen und zu begreifen. Das Gesicht der jungen Ärztin wird beim Zuhören plötzlich ganz weich: Gehen Sie nur. Ich sage im Schwesternzimmer, dass Sie einen kurzen Spaziergang machen.

Sie fährt mit dem Bus zum Friedhof und kauft im Blumengeschäft vor dem Eingang eine einzelne Rose. Dann spaziert sie langsam hinein und geht automatisch den richtigen Weg zum Familien-Urnengrab. Sie wundert sich selbst, dass sie nach so langer Zeit den Weg noch weiß. Sie kommt sehr selten hierher - nie hat sie das Gefühl gehabt, dass ihre Großeltern irgendwas mit diesem Ort zu tun haben. An ihren Großvater erinnert sie sich nur noch in einzelnen Bildern aus der frühen Kindheit, aber an ihrer Großmutter hat sie sehr gehangen. Sie hat zumindest versucht, die Kälte der Mutter etwas auszugleichen. 

Dann steht sie vor dem frischen Grab. Es ist überhäuft mit Kränzen und Gestecken, sogar ihre Kolleginnen haben Blumen geschickt. Ihr eigenes Gesteck ist auch da - ohne den Anruf bei der Blumenhandlung hätte sie nicht einmal Tag und Uhrzeit der Beerdigung gewusst. Unvermittelt sagt sie: So viele schöne Blumen - das hätte Dir gefallen, Mutti! Die mitgebrachte Rose will sie nicht einfach auf das Grab fallen lassen, also geht sie in die Hocke und legt die Blume behutsam nieder. Als sie sich wieder aufrichten will, geht es nicht. Ihr war einfach nicht klar, dass sie so bald nach der Operation noch geschwächt ist.

Da hockt sie nun vor dem Grab ihrer Mutter, auf dem nassen Boden, an einem grauen feuchten Herbsttag, keine Menschenseele in der Nähe (außer, die Seele ihrer Mutter wäre noch hier?). Sie überlegt. Was kann sie tun? Um Hilfe rufen wird sie auf keinen Fall. Langsam muss sie grinsen, dann lachen, und stellt sich vor, ihre Mutter lache mit ihr. 

Sie nimmt all ihre Kraft zusammen, konzentriert sich und stemmt sich hoch. Dann geht sie zur Bushaltestelle, fährt zurück ins Krankenhaus und sinkt erleichtert in ihr Bett. In dieser Nacht schläft sie gut.






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