Samstag, 29. Juni 2013

Sentimental Journey

Bei einem Besuch in der elterlichen Wohnung fiel mein Blick auf eine Schale, die im Flur auf dem Sideboard steht.  Solange ich denken kann, steht sie da – früher gefüllt mit Markstücken, heute mit Euromünzen, und jeden Freitag lag dort ein Extrahäufchen mit abgezähltem Geld.

Dieser abgezählte Betrag war für den Eiermann.  Und einer von uns ging bei seinem Klingeln zur Wohnungstür – manchmal noch rosig glühend vom wöchentlichen Wannenbad – und tauschte das Häufchen Münzen gegen zwanzig frische Hühnereier.

Als Kind dachte ich, der Mann im grauen Kittel und mit Hütchen auf dem Kopf hieße Herr Eiermann. Das schien mir einleuchtend. Der Eiermann hieß aber Herr Jäger, war ein Bauer aus der Umgebung und machte jede Woche seine Runde in unserer Siedlung mit den Erzeugnissen  seiner zweifellos glücklichen Hühner. Landwirt war er nicht.  Auch kein Jäger. Sondern Bauer.

So wie auch unser Postbote kein Zusteller war. Der Postbote war ein flinker, freundlicher und fast zur Familie gehörender Mann, der die Post brachte. Wie schön klingt allein das Wort „Bote“. Es erzählt von Erwartung und Vorfreude. Wer hat nicht schon einmal sehnsüchtig auf einen Brief gewartet? Ich erinnere mich an die Briefe meiner Oma, wenn sie oder wir in den Ferien waren. Damals wurden tatsächlich Briefe und Postkarten hin und her geschickt, auch wenn wir nur zwei Wochen ein paar hundert Kilometer entfernt Urlaub machten. Was mich heute noch zum Schmunzeln bringt, war die Abschiedsformel – meine Oma beendete ihre Briefe immer mit denselben Worten: „Nun muss ich schließen.“  Als wenn dringende Aufgaben auf sie warteten. Vielleicht hatte sie diese Floskel irgendwo aufgeschnappt und empfand sie als elegant. Meine Oma stammte aus einer armen Familie und konnte nicht lange zur Schule gehen. Ich staune heute noch, wenn ich Handschriftliches von ihr finde, dass darin kein einziger Rechtschreibfehler zu entdecken ist.

Sehr selten kam ein Telegramm. Telegramme waren – außer bei runden Geburtstagen – immer ein schlechtes Omen. Die harmlosen erkannte man gleich, es waren sogenannte  „Schmucktelegramme“. Die anderen wurden mit Bangen vorsichtig geöffnet und hatten meist Trauriges mitzuteilen. Immerhin war der Empfänger vorgewarnt und konnte sich wappnen. Heute kann es passieren, dass wir nichtsahnend eine SMS anklicken - und  der Lebensabschnittspartner hat Schluss gemacht.


Lebensabschnittspartner gab es damals auch nicht. Genauso wenig wie Studierende. Nachdem ich von der Schülerin zur Abiturientin geworden war, ging ich als Erste der Familie an die Uni. Aber eine Studierende war ich bestimmt nicht, sondern eine ziemlich stolze und aufgeregte Studentin. Studentin zu sein, das bedeutete soviel mehr als zu studieren: eine ganz neue Welt öffnete sich mir, mit schier unendlichen Möglichkeiten. Es gab für mich kaum ein größeres Geschenk als die Entdeckung, wie aufregend es ist zu denken und zu lernen. Ein Schritt hinaus ins Freie. 

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